La vie continue
Natalina Haller
Anja Glover ist eine junge Schweizer Journalistin und Mitglied von Junge Journalisten Schweiz. Zurzeit lebt sie in Paris und hat die letzten Tage und auch damals Charlie Hebdo miterlebt. Sie hat uns diesen Text für unseren Blog zur Verfügung gestellt.
Marianne, die eiserne Statue auf dem Place de la Republique reckt ihren Olivenzweig in die Höhe, zu ihren Füssen tummeln sich Menschen und Medien. Die Versammelten trauern, staunen, sind fassungslos. Noch nicht ein Jahr ist es her, als wir uns alle hier versammelten, um gemeinsam zum „Place de la Nation“ zu marschieren. Als wir bis spät in die Nacht Lieder gesungen hatten und glaubten, dass dieser Moment historisch und einmalig sei. Als wir uns alle sicher waren, Charlie zu sein. Wir fühlten uns sicher, damals so wie am Freitag, dem 13. November und auch heute. Zu unrealistisch und - obwohl es genau hier geschah, ein paar Meter weiter- zu weit weg, fühlte es sich an. Es sind nicht nur jene Kinder, die hier in der Abendsonne Fangen spielen, die nicht verstehen. Wir alle können nicht verstehen, auch so nahe am Geschehen sind wir schlichtweg unfähig zu fassen, was geschieht und geschehen ist. Wir sind noch nicht einmal fähig, richtig Angst zu haben. Zu friedlich wirkt dieses Paris, das wir so gut kennen.
Wir hatten uns nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo längst daran gewöhnt, dass Polizisten überall aufmerksam umhergingen. Mit ihren Schlagstöcken am Gürtel baumelnd und den Gewehren in den Armen wiegend, fühlten wir uns längst sicher, von ihnen umgeben zu werden. Wir zeigten Ausweise und Taschen, bevor wir die Uni betraten und das Geräusch von Polizeiwagen und Abmulanzen gehörte zum Leben in Paris wie das Vogelgezwitscher in den Wald.
Und dann passierte es wieder: Dieses üble Gefühl des Unwissens, das gehetzte Verfolgen von Nachrichten, getrieben von Sorge und Angst, diese Fragen, die unbeantwortet, aber nicht vergessen bleiben. Und dann das Glück, das plötzlich empfunden wird, sobald wir wissen, dass es all unseren Bekannten gut geht und die von schlechtem Gewissen erfasste Freude darüber. Die hohen Wellen, die sich in den sozialen Medien selbst zu überschlagen drohen und das Unwissen, wie man damit umgehen und was man davon halten soll.
Wie ist es momentan in Paris, wie fühlt es sich an? Ich weiss nicht. Wie ist es momentan woanders? Erfahren wir nicht alle gleich viel? Und gleich schnell? Sind wir nicht alle betroffen? Haben wir nicht alle dieselben Videos gesehen und Texte gelesen? In den Medien mag das Bild der Geisterstadt durchgedrungen sein. Mir zeichnet sich ein anderes: Paris ist auf den Strassen, wie sonst auch. Die Menschen legen nur wenige Stunden nach dem Anschlag Blumen am Tatort nieder, andere verschwitzen ihre Kleider beim Joggen, wieder andere trinken ihren Sonntagskaffe, neben der Seine so wie auch im 11. Arrondissement. Die Seine spiegelt das Licht der Sonne, es ist erstaunlich warm geworden, jemand macht einen Witz, wir lachen. Es geht uns gut. Darf es das? Darf es uns hier gut gehen?
Wir stehen heute wieder da und blicken an ihr hoch, an Marianne, die seit der Französischen Revolution für Freiheit steht und uns daran mahnt, sich brüderlich zu benehmen, uns versucht zu sagen, dass wir alle gleich sind. Wir blicken an ihr hoch, wie sie selbstbewusst und sicher über die Stadt der Abendsonne entgegenblickt und versuchen zu verstehen. Ihr Sockel ist längst bemalt worden, glüht im Kerzenlicht und ist übersäht mit Blumen und Briefen. Dieser Tag wird zu ihrer Geschichte gehören und auch zu unserer. Wir bleiben bis die Sonne untergeht, der Eiffelturm auf der anderen Seite der Seine leuchtet wieder und wirft sein beschützendes Licht kreisförmig über die Stadt, die doch eigentlich die Stadt der Liebe ist. Es ist schwierig zu fühlen, nachzuvollziehen und es schwierig, wieder naiv zu sein, zu hoffen und schlichtweg zu leben. Es ist schwierig zu glauben, dass wir alle gleich sein sollen.
Eine Frau überquert mühsam hechelnd die Strasse, auf meiner Seite angekommen lächelt sie über sich selbst und erklärt mir, dass sie nicht mehr die Jüngste sei, ehe sie auf ihr Fahrrad steigt und davonradelt. Etwas weiter vorne bietet mir ein Verkäufer Rosen an, ich lehne wie immer dankend ab. Und da an der Ecke im Park stellt sich ein Vater ungeschickt beim Fussballspielen mit seinen Kindern an. La vie continue. Fluctuat nec mergitur. Das Leben geht weiter. Paris schwankt, wird aber nicht sinken. Wir dürfen wieder lächeln, wahrscheinlich sollen wir auch.