Rambojournalisten in Town
Natalina Haller
Der Vierfachmord von Rupperswil ist aufgedeckt. Der Katalysator der geografischen Nähe hat auch meine emotionale Bestürzung verstärkt: Rupperswil ist die Nachbarsgemeinde meines Wohnortes, der mutmassliche* Täter hat Junioren trainiert, gegen die ich als Kind Fussball spielte und wir drückten bei den selben Mittelschullehrern die Schulbank. Ich kenne ihn nicht und gleichwohl bin ich nicht gefeit vor Verknüpfungen. Ein medialer Bankrott in drei Teilen.
1. Gibt es Klicks, scheiss auf Sorgfaltspflicht
David Wiederkehr, Sportredaktor beim «Tagesanzeiger», twitterte den Ausschnitt einer SMS-Konversation zwischen ihm und einem Blick-Journalisten. In dieser Textpassage fordert der Blick-Journalist seinen Kollegen dazu auf, er solle ein richtiges Foto des Täters auftreiben, da ansonsten eventuell ein Unschuldiger diffamiert würde. Wir halten zwei Dinge fest:
Der entsprechende «Blick»-Journalist versuchte, mit einer Erpressung an ein Foto des Täters zu gelangen und…
- nimmt in Kauf, ein Foto von jemandem zu veröffentlichen, bei dem er sich nicht sicher ist, ob dieser auch wirklich der Täter ist.
2. Der Name ist Sippenhaft
Der Deutsche Pressekodex legt in seinen publizistischen Grundsätzen fest: «Die Presse veröffentlicht [...] Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt.» Betroffen sind im vorliegenden Fall der Täter und sämtliche Personen, die mit ihm in Verbindung gebracht werden könnten.
Der Bruder des Täters wurde in verschiedenen Artikeln mit Angaben zu Wohnort und Familienverhältnis erwähnt. In Kombination mit dem Namen des Täters ist es für jeden Hobbygoogler ein Leichtes, die Adresse, die Namen der Kinder, den Arbeitsplatz ausfindig zu machen. Die Region Aarau ist ein kleinräumiges Gebiet. Man kennt sich. Fragen wie «Stimmt es, dass dein Onkel vier Menschen gekillt hat» werden kommen, wenn Journalisten nicht aufpassen.
Die Angehörigen haben ein Anrecht darauf selbst zu entscheiden, ob sie mit dem Täter in Verbindung gebracht werden möchten. Ihre Würde hat oberste Priorität, auch sie sind indirekte Opfer. Dessen ungeachtet teilten auf Twitter diverse Journalisten und Journalistinnen leichthin den Nachnamen des Täters. Es ist klar, wer will, kommt auch ohne Hilfestellung der Journalistengilde an die Persönlichkeitsangaben und doch ist die Posaune lauter als eine Flöte. Es liegt in der Pflicht der Journalisten und Journalistinnen, mit ihrer erhöhten Wirksamkeit in der Öffentlichkeit verantwortungsvoll umzugehen. Im Falle eines eingesperrten Täters, von dem keine Gefahr mehr ausgeht, besteht kein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, den Namen zu erfahren. Die Privatsphäre der Angehörigen ist zu wahren; das ist Opferschutz. Es gilt, was der Supportdienst von Twitter rät: «Erst denken, dann twittern.»
3. Du schreibst über Bin Laden? Du Sau!
Die «Schweiz am Sonntag» und der «Blick» haben die Maturitätsarbeit des Täters ausfindig gemacht. Die «Schweiz am Sonntag» schreibt: «Seine Interessen für Gewalt und Zerstörung schienen schon seit Jahren in ihm zu schlummern. Seine Matura-Arbeit verfasste er über den Terroristen Osama Bin Laden und die Anschläge von New York.» Mit Bezug auf diesen Artikel doppelt der «Blick» nach: «Die Bestie von Rupperswil hatte offenbar schon als Schüler eine Faszination für Gewalt.»
Das ist ein haarsträubender, unzulässiger Umkehrschluss und geifernde Küchenpsychologie. Aber viel schlimmer ist auch hier wieder die vernachlässigte Sorgfalt. Die «Wahrung der Menschenwürde» steht nicht nur als erstes Grundrecht in der Bundesverfassung, sondern auch in den Richtlinien des Schweizer Presserates. Auch «die Bestie» hat Anrecht auf Würde. An den Haaren herbeigezogene Interpretationen seiner Psyche als Mittel für höhere Klickzahlen sind eine eindeutige Verletzung dieser Devise. Die scheinbare Proportionalität zwischen Schwere der Tat und Rücksichtslosigkeit der Journalisten ist beschämend.
Willkür, Pranger und Würdeverletzungen. Ich gehöre nicht zu denen, die pauschal den Boulevardjournalismus in die Schmuddelecke verorten, doch muss es möglich sein, auch wenn es um Verbrecher geht, moralische Leitlinien zu wahren. Wenn Journalisten potentiell billigen, dass ein beliebiger Fussballtrainer fälschlicherweise als Mörder deklariert wird (siehe Bild), ist das ein Vertrauensbruch gegenüber den Lesern und der allgemeinen Öffentlichkeit. Ich habe Fussball gespielt, lebe in der Region, besuchte im selben Ort die Kantonsschule. Bin ich sicher vor Verknüpfungen? Bei solchen Praktiken müssen wir uns nicht wundern, dass die Medien an Kredibilität verlieren und Trolle die Kommentarspalten vergiften; sie haben kein besseres Vorbild. Ich für meinen Teil habe präventiv die Maturitätsarbeit des Täters für die nächsten Monate bei der Kantonsschule reserviert. Weitere Psychoanalysen auf der Basis eines 13 Jahre alten Dokumentes ertrage ich nicht mehr.
* «Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.», StPO 312
ZUM AUTOR
Elia Blülle ist freischaffender Journalist und lebt in Aarau. Bis Februar 2016 war er Präsident von Junge Journalisten Schweiz. Dieser Blogpost erschien zunächst auf www.ebluelle.ch. Bild: Twitter.com/Philippe Wampfler